Alles oder Nichts? – Die Praxis des Gesundheitswesens

Andre hatte im Mai das kolumbianische Gesundheitswesen in der Theorie erläutert. Was ist die EPS und was sisben? Im Folgenden möchte ich schildern, wie ich in den letzten Wochen die Praxis des Gesundheitssystems erfahren habe und die Unterschiede zwischen Theorie und Praxis hervorheben. Hierzu traf ich Stella, eine befreundete Ärztin, die im Auftrag des Staates die Einhaltung der Leistungen im Gesundheitswesen, speziell die der Krankenkassen, überprüft.

„Wir übernehmen die Kosten für die Operation, aber die Magensonde müssen Sie zahlen. Diese Leistung ist nicht abgedeckt!“ sagt der Angestellte der Krankenkasse freundlich aber bestimmt.

Kopfschüttelnd verlasse ich das Büro der Krankenversicherung in Bogota. Dies ist nicht die erste – für mich völlig unverständliche – Situation, die wir erleben, seit Miguels Vater im Krankenhaus ist. Ich frage mich ernsthaft, was die Krankenkasse überhaupt bezahlt? Wie kann es sein, das Windeln, eine Nachtkrankenschwester und für eine Operation notwendiges Zubehör selbst gezahlt und organisiert werden müssen? Wofür ist man dann überhaupt versichert? Was machen Familien, die die finanziellen Mittel nicht haben, diese Dinge zu bezahlen und was geschieht dann erst mit Patienten die nicht versichert sind?

Die kolumbianische Verfassung garantiert jedem Bürger den Schutz seines Besitzstandes, seiner Gesundheit und seiner körperlichen Unversehrtheit. Dies beinhaltet, dass jeder Kolumbianer, ob sisben, EPS oder nicht versichert das Recht auf Gesundheit hat d.h., dass ihm die notwendigen Medikamente, Behandlungen und Gerätschaften bezahlt werden und dass jeder in jedem Krankenhaus aufgenommen und behandelt werden muss.
Die Praxis haben wir jedoch in den letzten Wochen ganz anders erlebt. „Diese Leistung ist nicht abgedeckt!“

Bis Anfang der Neunziger Jahre gab es nur eine staatliche Krankenversicherung (serguro social). Ständig knapp bei Kasse, wirtschaftspolitischer Willkür ausgesetzt und als Monopolist auf dem Markt, waren ihre Leistungen miserabel. Nur wohlhabende Kolumbianer konnten sich finanziell ihr Recht auf Gesundheit sichern. Dieser Missstand führte dann 1991 zu einer großen Reform (Ley 100), die das Gesundheitswesen für Privatanbieter öffnete. In den begleitenden Gesetzten wurde festgelegt, welche Leistungen von der Kasse zu tragen sind und für welche der Patient selbst aufkommen muss. Jedoch sind diese Regelungen sehr oberflächlich. Dazu später mehr.

Außerdem wurde den Kassen im Rahmen dieser Reform vorgeschrieben die Gesundheit der Bevölkerung zu steigern.

Um dies zu unterstützen wurde die „tutela“ eingeführt, ein Rechtmittel, das es ermöglicht vor Gericht die notwendige, von der Krankenkasse abgelehnte Hilfe, einzuklagen. Auch hier gibt es Theorie und Praxis, denn nur langsam verbreitete sich das Wissen über die tutela. Viele Kolumbianer wissen bis heute nicht, was ihnen genau zusteht und wie sie es einklagen können. Den Schritt zu Gericht zu „wagen“, dort vorzusprechen bzw. ein Schreiben aufzusetzen, schreckt viele Menschen ab. Auch die Mentalität der Kolumbianer verhindert dies oftmals. Auf Grund der jahrzehntelangen Missstände im Gesundheitswesen neigen viele Kolumbianer dazu den einfachsten Weg zu gehen. „Wenn mir das Medikament von der Krankenversicherung nicht zusteht, dann ist das eben so und ich kaufe es selber.“ (Soweit das finanziell möglich ist.) Vom Tag der Einklage darf der Prozess der tutela maximal 1 Woche in Anspruch nehmen.

Kurz nachdem Miguels Vater aus dem Krankenhaus nach Hause kam wurde die tutela zu seinen Gunsten ausgelegt. Gab es die Wochen zuvor in der Klinik nichts – keine Windeln, keine Betreuung und nur die allernotwendigsten Medikamente und Nahrung – so bekamen wir jetzt alles. Plötzlich glich sein Zimmer dem einer Privatklinik: Eine Krankenschwester für den Tag, eine für die Nacht, eine Atemtherapeutin, eine Physiotherapeutin, eine Logopädin, 3 Sauerstoffgeräte, ein Tropf für die Ernährung usw. Ist es für die Krankenkasse günstiger erst einmal alles abzulehnen und dann im Notfall, wenn der Patient seine Rechte per tutela bekommt dies alles zu bezahlen? Wie es aussieht schon, denn die Krankenkassen scheinen mit der Mentalität ihrer Landsleute zu rechnen und lehnen erst einmal so viele Leistungen wie nur möglich ab.
Aber es gibt immer mehr Kolumbianer, die sich wehren und mit Hilfe der tutela zu ihrem Recht gelangen. Heute gibt es 300 neue Einklagen jeden Monat und die Verbreitung schreitet weiter voran.

Um noch einmal auf das Problem der Liste der inkludierten Leistungen der Krankenkasse zu kommen: Es kann z.B. passieren, dass in dieser Liste ein bestimmter Herzschrittmacher aufgeführt ist. Verschreibt der Arzt jedoch nicht genau diesen, sondern vielleicht einen einer anderen Marke oder mit differenzierter Beschaffenheit ist es wahrscheinlich, dass die Versicherung die Zahlung ablehnt. Was passiert also mit dem Herzkranken, der keine Woche Zeit hat bis ihm über die tutela Recht gegeben wird?

Ein weiteres Phänomen, das gegen die Einhaltung der Theorie des Gesundheitssystems spricht ist der so genannte „Paseo de la muerte“ (Fahrt des Todes). Es passiert, dass ein Patient mit dem Krankenwagen von Klinik zu Klinik gefahren wird, weil er nicht angenommen wird. Dies kann sein, weil er nicht versichert ist, weil das Krankenhaus keinen Vertrag mit der Versicherung des Patienten hat oder weil keine Betten frei sind. Also – der Verfassung und damit der Theorie widersprechend. Stella sagt mir zu diesem Thema, dass es zwar immer noch vorkommt, aber schon viel weniger geworden sei als noch vor ein paar Jahren.

Alles oder Nichts? Ist das tatsächlich die Frage, die man sich in Kolumbien im Krankheitsfall stellen muss?